Das Drama Leben des Galilei von Bertolt Brecht gibt es nicht. Bekannt wurde unter diesem Namen die dritte Fassung eines Stücks, geschrieben und nicht endgültig abgeschlossen 1955/56, eine Fassung, die zeitlich am weitesten von dem Text entfernt ist, der als die genuine Bearbeitung des Stoffs angesehen werden kann. Auch dieser Text heißt Leben des Galilei und ist 1938/39 entstanden. Zwischen der ersten und letzten Bearbeitung liegt Galileo, die English Adaption, also in englischer Sprache, die Brecht ab 1944 zusammen mit dem Schauspieler Charles Laughton für eine amerikanische Aufführung (1947) erarbeitet hat.
Die englische Fassung des Stücks verschiebt die ursprüngliche Aussage unter dem Eindruck der Atombombe von Hiroshima so entschieden, dass am selben Stoff beinahe konträre Fälle demonstriert werden. Die dritte Fassung, die äußerlich eine »Rückübersetzung« des amerikanischen Textes darstellt, verschärft, diesmal unter dem Eindruck des wegen »Atomspionage« zum Tode verurteilten Wissenschaftler-Paares Ethel und Julius Rosenberg (1953) und des Falls Robert J. Oppenheimer (1954), diese Tendenz noch und rückt das neue Thema eng an die Gegenwart heran.
Wer Brechts Galilei interpretieren möchte, muss sich also entscheiden, welchen Text er/sie der Analyse zugrunde legt. Ich umgehe im vorliegenden Fall das Dilemma insofern, als ich zunächst die wichtigsten Unterschiede zwischen den Fassungen darlege und dann ein grundsätzliches wissenschaftstheoretisches Problem erörtere, das in allen drei Fassungen gleichermaßen gewichtig und mit fast identischen Formulierungen abgehandelt ist.
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