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Körper - Behinderung - Pädagogik
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Körper - Behinderung - Pädagogik
von: Sven Jennessen, Reinhard Lelgemann, Heinrich Greving
Kohlhammer Verlag, 2016
ISBN: 9783170240841
291 Seiten, Download: 3486 KB
 
Format: EPUB, PDF
geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen PC, MAC, Laptop

Typ: A (einfacher Zugriff)

 

 
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1          LEBENSSITUATIONEN VON MENSCHEN MIT KÖRPERLICHEN UND MEHRFACHEN BEEINTRÄCHTIGUNGEN IN GEGENWART UND ZUKUNFT GESTALTEN – IN KENNTNIS DER HISTORISCHEN ENTWICKLUNGEN


Reinhard Lelgemann


Vorbemerkung


In einer Zeit, in der ohne Unterbrechung hunderte von Informationen auf uns einwirken und ebenso rasch vergessen werden, stellt sich durchaus die Frage, welche Bedeutung die Kenntnis historischer Entwicklungen für die Gegenwart der eigenen professionellen Tätigkeit haben kann; weitergehend für die Gestaltung von Handlungsmöglichkeiten von Menschen mit körperlichen und mehrfachen Beeinträchtigungen. Derartige Reflexionen können sich dabei sowohl aus einem spezifischen, ebenso aber häufig wohl aus einem eher allgemeinen Interesse ergeben. Ein spezifisches Interesse liegt dann vor, wenn historischen Reflexionen Bedeutung für Fragestellungen im professionellen Kontext gegeben wird, die für die Gegenwart bzw. die nahe Zukunft relevant sind. Beispiele hierfür sind z. B. konzeptionelle Überlegungen zur Gestaltung der pädagogischen Zusammenarbeit mit Schülern mit sehr schweren Beeinträchtigungen oder Planungen zur Weiterentwicklung eines Einrichtungsträgers von Angeboten für Menschen mit Beeinträchtigungen (vgl. Schmuhl & Winkler 2010). Wesentlich häufiger aber wird es ein eher unspezifisches Interesse im Rahmen der eigenen Ausbildung sein, welches z. B. der beruflichen Selbstvergewisserung dient.

Sicherlich wäre es vermessen, durch die Beschäftigung mit historischen Entwicklungen konkrete Entscheidungshilfen für aktuelle Anliegen zu erwarten. Doch hofft der Autor, dass historische Reflexionen für die historischen Hintergründe weitergehender Entwicklungen und möglicher Strategien, in die Professionelle als Handelnde eingebunden sind, sensibilisieren. Dies ist vermeintlich wenig, doch aus Sicht des Autors genug, um einen erneuten Versuch zu wagen, einige Stränge der Geschichte der Körperbehindertenpädagogik zu verfolgen. Die Darstellung stellt angesichts der Kürze des Beitrages eine durchaus subjektive Auswahl der Fragestellungen dar, die dennoch anstrebt, wesentliche und aktuell relevante Kernthemen zu reflektieren. Der Artikel orientiert sich im ersten Teil am 1999 erschienenen Beitrag von Hans Weiß zu zentralen Aspekten einer Geschichte der Körperbehindertenpädagogik. Bergeest in der ersten Auflage seines Kompendiums zur Körperbehindertenpädagogik (2000), vor allem aber Stadler und Wilken (2003) gebührt das Verdienst, die großen Leitlinien einer Geschichte der Körperbehindertenpädagogik in den letzten Jahren differenziert und kenntnisreich dargestellt zu haben. Zudem liegen inzwischen einzelne Studien zu Teilaspekten des Fachgebietes und naheliegender Gebiete vor, auf die hier nur verwiesen werden kann (z. B. Bösl 2009; Fuchs 2001; Musenberg 2003).

1.1       Geschichte in Spannungsfeldern Geschichte in Spannungsfeldern


Weiß hat in seinem 1999 erschienenen Artikel Spannungsfelder einer historischen Betrachtung innerhalb des Fachgebietes benannt, die auch noch heute, fast 20 Jahre später, von Bedeutung sind. Als solche benennt er:

•  die Herausforderung der Entwicklung und Ausgestaltung institutionell-professioneller Angebote

•  die Diskussion und konkrete Entwicklung von Heim- und Tagesschulen

•  das Verhältnis „separater“ und „integrativer“ Formen der Erziehung und Bildung von Schülerinnen und Schülern mit Körperbehinderungen

•  die Frage der Kooperation mit den Eltern der Schülerinnen und Schüler

•  die Herausforderung der uneingeschränkten Einbeziehung von Schülerinnen und Schülern mit sehr schweren, mehrfachen und sog. schwersten Behinderungen in schulische Bildungsprozesse als permanent zu sichernde Aufgabe

•  die didaktische Herausforderung der Verbindung von Unterricht, Pflege und Therapie

•  die kritische Auseinandersetzung mit utilitaristischem Denken

•  die Frage der Einbeziehung von Schülerinnen und Schülern mit weiteren Beeinträchtigungen (Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf im Bereich Lernen oder kognitive Entwicklung, Sehen und Hören)

•  das Verhältnis von Medizin (Therapie) und Pädagogik, Didaktik und Erziehung

Auch wenn seine Systematik stark am schulischen Bereich orientiert ist, so erscheint dies berechtigt, denn Körperbehindertenpädagogik hat sich im historischen Kontext immer deutlich über dieses Aufgabenfeld definiert. Viele der hier zu Grunde liegenden Herausforderungen sind auch für die Gegenwart relevant und zudem eng miteinander verknüpft. Die Ausgestaltung der konkreten pädagogisch-strukturellen Angebote steht z. B. gegenwärtig in direkter Beziehung zur Frage der weiteren Entwicklung integrativer bzw. inklusiver oder spezialisierter Bildungsangebote. Gerade in diesem Kontext stellt sich erneut die Frage der Bedeutung bzw. Sicherung therapeutischer und pflegerischer Elemente für ein unterstützendes Bildungsangebot oder die Frage der Einbeziehung von Schülerinnen und Schülern mit sehr schweren Beeinträchtigungen in die weiteren bildungspolitischen Entwicklungen.

1.2       Zur Sicherung des Bildungsangebotes


Die hier durch die Impulse von Weiß angesprochenen Aspekte der historischen Entwicklung können an dieser Stelle nicht vertieft behandelt werden. Hier muss auf die bereits genannten Publikationen sowie aktuelle Veröffentlichungen im didaktisch-methodischen Kontext verwiesen werden (z. B. Bergeest, Boenisch & Daut 2015; Lelgemann 2010).

Grundlegend lassen sich die hier nur grob skizzierten historischen Entwicklungen überdies aus gerechtigkeitsphilosophischer Perspektive reflektieren. Insbesondere Philosophinnen wie Martha Nussbaum (2010), noch deutlicher aber Eva Kittay (2006), stellen die Frage, ob die starke Orientierung der Gerechtigkeitsphilosophie und vieler staatlicher Verfassungen am unausgesprochenen Grundgedanken fähiger, nicht gesundheitlich eingeschränkter Menschen, wie sie sich im ersten Entwurf von Rawls (1979) findet, nicht dazu führt, dass weniger begabte, gesundheitlich eingeschränkte Menschen und ihre Angehörigen, vor allem also die Mütter, in solch einer Gesellschaft strukturell benachteiligt werden. Auf der Basis ihrer kritischen Anfragen entwickeln sie ein Gerechtigkeitsmodell, welches staatlichen Strukturen die Verantwortung dafür gibt, Voraussetzungen zu schaffen, auf deren Basis ein möglichst gutes Leben aller Menschen möglich wird. Hierbei soll insbesondere berücksichtigt werden, dass alle Menschen als hilflose, zu pflegende Wesen geboren werden, alle Menschen Abhängigkeitssituationen auch in ihrem weiteren Leben zeitlich begrenzt erfahren, manche auch ein Leben lang, und zudem alle Menschen im hohen Alter erneut fürsorge- und pflegebedürftig sein werden und pflegender Angehöriger bedürfen. Auf der Grundlage der von Weiß vorgeschlagenen Themenfelder und mit Hilfe der Überlegungen von Nussbaum und Kittay lassen sich so Kriterien ableiten, mit denen historische und aktuelle Entwicklungen der Körperbehindertenpädagogik systematisch analysiert und kritisch betrachtet werden können.

Mit Bezug auf die Entstehung und Gestaltung von Bildungsangeboten für Schülerinnen und Schüler mit körperlichen oder mehrfachen bzw. schwersten Beeinträchtigungen können z. B. folgende Leitfragen untersucht werden:

•  Hatte und hat der Staat eine Verpflichtung, Menschen mit einer Beeinträchtigung ein Bildungsangebot zu ermöglichen oder sollte er dies privaten Initiativen oder den Familienangehörigen überlassen?

•  Reicht es, wenn diese Schülergruppe formal dem allgemeinen Bildungssystem angehört, oder sind spezifische Unterstützungsleistungen notwendig?

•  Sollen in dieses Angebot auch Personengruppen einbezogen werden, die absehbar keinen produktiven Beitrag leisten können?

Diese ethischen Fragestellungen sind gleichermaßen für die Gegenwart als auch historisch bedeutsam. Im 19. und 20. Jahrhundert sahen staatliche Strukturen und deren Institutionenvertreter ihre zentrale Aufgabe in der Sicherung der Funktionsfähigkeit des nationalen Staatengebildes. Hierzu gehörte die Sicherung der Produktivität und der Leistungsfähigkeit des eigenen Staates, seiner Verteidigungsfähigkeit und damit der nationalen Souveränität. Entscheidungen in vielen anderen Handlungsbereichen, seien dies die Gesundheitsfürsorge, die...



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