II
Die Frage, warum aus Tonios Bekenntnis zur Bürgerlichkeit keine praktischen Folgen erwachsen, lässt sich rein künstlerisch beantworten, denn solche Folgen hätten die geschilderte statische Struktur notwendig sprengen müssen. Sie lässt sich auch dezisionistisch beantworten, indem man erklärt, dass der Dichter seine Erzählungen enden lassen kann, wie er will, und keiner Belehrung durch spätere Interpreten bedarf.
Da Thomas Mann aber immer wieder, von seinen frühesten bis zu seinen spätesten Werken, Gestalten geschaffen hat, die das Leben begehren, aber von ihm ausgeschlossen bleiben, könnte es für diese Konstante seines Schaffens auch eine konstante Begründung geben. Dazu soll ein zweiter Blick auf den biographischen Hintergrund geworfen werden, dieses Mal aber nicht auf den offenkundigen, jedem halbwegs informierten Leser erkennbaren, sondern auf den versteckten, der sich nur mit Hilfe von Informationen erschließt, die Thomas Mann bis ins hohe Alter zu verheimlichen versucht hat. Diese versteckte Schicht – es geht natürlich um die Homosexualität – soll zwar nicht als eigentlicher Schlüssel vorgestellt werden, der alle anderen Deutungen entbehrlich machte. Die Erzählung lässt sich zweifellos auch ohne solche Kenntnisse sinnvoll lesen. Aber mit ihnen kommt doch eine weitere Strukturebene in den Blick, die einige Motive anders zu deuten ermöglicht und einige zusätzliche Antworten erlaubt.
Unter dem Titel Meine erste Liebe erschien 1931 eine Absage auf die Umfrage einer Redaktion. In dieser Absage äußert Thomas Mann: »Ich hätte mich übrigens nur auf meine Jugenderzählung ›Tonio Kröger‹ beziehen können, die von solchen süßen Schmerzen allerlei zu erzählen weiß.« Wem galten die süßen Schmerzen? Im hohen Alter hat Thomas Mann Auskunft gegeben. Einem Schulfreund, der in einem Brief den Namen Armin Martens erwähnt hatte, antwortet er, der Name hätte eine rote Unterstreichung verdient.
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