Jäger Tell
Denn eine Probe und eine Versuchung ist Geßlers Gebot, dem Knaben den Apfel vom Haupte zu schießen, gewiss. Allerdings sollen weder die Treffsicherheit noch auch die Unerschrockenheit des Schützen unter Beweis gestellt werden; von beidem sind nicht nur die Bewunderer Tells, sondern auch Geßler längst unterrichtet und überzeugt. Geht es also doch um die Herausforderung des Vaters, die Verletzung aller natürlichen Rechte des Menschen, ein Vergehen gegen das Naturrecht, das die Despotie in ihrem ganzen Ausmaß enthüllen soll und das auch Tell selber in dem langen Monolog vor der entscheidenden Tat mehrmals zur Legitimation seiner Absicht erinnert? Selbst in diesem Reflexionsmonolog kommen dann aber Bedeutungen zur Sprache, die nur schlecht zur, wenn auch tödlich gekränkten Vaterehre passen.
Bereits im Gespräch mit Hedwig hatte Tell auf seiner besonderen Profession beharrt: »Zum Hirten hat Natur mich nicht gebildet, / Rastlos muß ich ein flüchtig Ziel verfolgen. / Dann erst genieß ich meines Lebens recht, / Wenn ich mir’s jeden Tag aufs neu’ erbeute« (III,1,1487–90). In dem Rechtfertigungsmonolog vor der Tat, auf den Schiller gegen alle Einwände Ifflands so großen Wert gelegt hat, knüpft Tell an diese Gedanken nochmals an: »Ich laure auf ein edles Wild« (IV,3,2636) und:
Mein ganzes Leben lang hab ich den Bogen Gehandhabt, mich geübt nach Schützenregel, Ich habe oft geschossen in das Schwarze Und manchen schönen Preis mir heimgebracht Vom Freudenschießen – Aber heute will ich Den Meisterschuß tun und das Beste mir Im ganzen Umkreis des Gebirgs gewinnen. (IV,3,2645–51)
Dass Tell von Beruf Jäger, nicht Handwerker oder Bauer ist, charakterisiert ihn von Anfang an als den wagemutigen, aus einer anderen Zeit herüberragenden Abenteurer, der zwar nicht zum Rat, dafür umso mehr zur Tat taugt und dessen kriegerischer Sinn durch seine Beschäftigung ausgebildet wurde. Auch sein Verhältnis zu Geßler sieht er hier am Ende seines Monologs wie das des Jägers zu seinem besonders edlen Wild, eine Betrachtungsweise, die nur schlecht mit den moralischen und naturrechtlichen Reflexionen harmoniert, mit denen er zuvor dem Opfer die Schuld an dem bevorstehenden Mord aufladen möchte.
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