Juristische Probleme
Die Meinung darüber, ob Kohlhaas in seinem Streit mit dem Junker von Tronka alle Rechtsmittel erschöpft hat, ist in der Sekundärliteratur geteilt. Man argumentiert z. B., dass Kohlhaas den Artikel 16 der Reichskammergerichtsordnung von 1495 nicht beachtet habe, wonach ihm bei Justizverweigerung durch landesfürstliche Gerichte der Weg zum kaiserlichen Reichskammergericht in Speyer offenstand. Käme Kleist in seiner Erzählung nicht auf die kaiserliche Rechtsinstanz zu sprechen, könnte man vermuten, dass er mit den Rechtsgepflogenheiten des 16. Jahrhunderts nicht vertraut genug war, dass er den juristischen Instanzenweg der Reformationszeit nicht kannte. In den rechtshistorischen Gegebenheiten der Lutherzeit ist der Autor jedoch bewandert. Die Reichsinstanz wird nämlich in Kleists Dichtung – und in der Realität – von den Kurfürsten nur dann angerufen und beachtet, wenn es in ihrem eigensten Interesse ist; sie wird ignoriert, wenn sich Nachteile daraus ergeben könnten.
Der sächsische Kurfürst, damals einer der mächtigsten Territorialherren des Reiches, wendet sich erst an Wien, nachdem Kohlhaas als brandenburgischer Bürger vom Kurfürsten in Berlin reklamiert worden ist; eigentlich hätte er sich aber gleich mit der Sache Landfriedensbruch an den Kaiser wenden müssen. Ähnlich handelt der brandenburgische Kurfüst: Ihm geht es in erster Linie um die »Statuierung eines abschreckenden Beispiels« (101). Deshalb wünscht er die Verurteilung des Kohlhaas zum Tode. Das strenge Urteil aus Wien kommt ihm daher aus Gründen des politischen Eigennutzes gelegen.
Der Erzähler betont, dass der brandenburgische Kurfürst das Urteil des kaiserlichen Anklägers umständlich geprüft und erst dann unterschrieben habe (112). Da der Prozess am brandenburgischen Kammergericht in Berlin stattfand und nicht etwa durch das Reichskammergericht in Speyer (kompetent bei Fehdevergehen) verhandelt oder durch den Reichshofrat in Wien (zuständig für Landfriedensbruch) entschieden wurde, wäre es für den Kurfürsten ein Leichtes gewesen, das Urteil abzuändern. Tatsache ist, dass die protestantischen Fürsten – und um solche handelte es sich um die Mitte des 16. Jahrhunderts bei den brandenburgischen und sächsischen Landesherren – sich um die Justizentscheide des katholischen Kaisers in Wien wenig kümmerten.
Die Mitglieder des Reichshofrates in Wien waren sämtlich katholisch, und so ist es nicht verwunderlich, dass die Jurisdiktion der Reichsgerichte kein großes Gewicht in den protestantischen Ländern erlangte, die zudem in ihrem Widerstand gegen die Zentralgewalt durch Luther gestützt wurden. So kann denn auch nicht die Rede davon sein, dass Kohlhaas, um im Recht zu bleiben, an das Reichskammergericht hätte appellieren müssen. Nachdem die brandenburgischen und sächsischen Landesherren die Klage niedergeschlagen hatten, wäre eine Berufung bei der Reichsinstanz unter den gegebenen historischen Umständen aussichtslos gewesen.
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