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Achtsamkeitsübungen - Experimente mit einem anderen Lebensgefühl 99 Anleitungen für die Praxis
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Achtsamkeitsübungen - Experimente mit einem anderen Lebensgefühl 99 Anleitungen für die Praxis
von: Michael Huppertz
Junfermann, 2015
ISBN: 9783873878167
256 Seiten, Download: 361 KB
 
Format: EPUB, PDF
geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen PC, MAC, Laptop

Typ: B (paralleler Zugriff)

 

 
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Leseprobe

Prolog: Zwei Traditionen der Achtsamkeit


In diesem Buch wird es hauptsächlich um die Praxis der Achtsamkeit gehen. Diese Praxis hat eine jahrtausendealte Geschichte, und man würde ihre Spuren vielleicht, wenn man sorgfältig sucht, als Besinnung, Gelassenheit oder Weisheit in allen Kulturen finden. Aber als eigene Lehre und Übungsweg hat sie sich über die Jahrtausende hinweg vor allem in Indien, China, Japan und anderen Ländern Ostasiens im Rahmen der spirituellen Traditionen dieser Länder entwickelt. Die Geschichte der Achtsamkeit als Übungsweg im Westen ist demgegenüber kurz. Vereinzelte Kenner und Anhänger des Buddhismus findet man in Europa im 18. und vor allem 19. Jahrhundert, aber sie verfolgten meist religionswissenschaftliche, ethnologische oder philosophische Interessen, manchmal auch spirituelle. Die breitere kulturelle Wirkungsgeschichte der Achtsamkeitspraxis beginnt im Westen vor etwa 100 Jahren. Dabei haben die asiatischen Traditionen zwar eine Rolle gespielt, aber sie haben eher im Hintergrund gewirkt, während im Vordergrund aktuelle Themen der Zeit behandelt wurden. Bis heute umfasst diese Wirkungsgeschichte nicht nur die spirituelle Suche, sondern auch die Suche nach dem richtigen und dem gesunden Leben. Dadurch wurde die Achtsamkeitspraxis selbst experimenteller und vielfältiger.

Wenn man sich auf die Entwicklung der Achtsamkeitspraxis und ihren Einfluss auf Lebenskunst und Psychotherapie konzentriert – und das ist mein Anliegen –, so findet man heute zwei wesentliche Traditionen, die selten aufeinander Bezug nehmen. Die ältere Tradition lässt sich zurückverfolgen bis zu der Lebensreformbewegung des beginnenden 20. Jahrhunderts. Dieser Ursprung ist so interessant, dass ich mich ihm etwas ausführlicher widmen möchte.

Wesentliche Teile der kulturellen und intellektuellen Welt befanden sich damals in einer kritischen Auseinandersetzung mit dem industriellen Zeitalter, dessen Gefahren spätestens durch den 1. Weltkrieg überdeutlich wurden. Die Kritik der vor allem mittelständigen Lebensreformer richtete sich aber bereits vorher gegen Umweltzerstörung, Vermassung und Anonymisierung, gegen die Sinnentleerung der Arbeit und den Raubbau an Körper und Seele durch entfremdete Arbeit, falsche Ernährung, Alkoholismus, Hektik und Angst. Es entwickelte sich eine Reformszene voller Aufbruchstimmung und Kreativität, in der es um nicht weniger als die Vision einer neuen Harmonie zwischen Mensch, Natur und Gesellschaft ging (Krabbe 2001, Buchholz 2001a, 2001b, Graeff 2005).1 In dieser Zeit wurden viele Themen verhandelt, die in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts wieder aufgegriffen wurden und teilweise unverändert und wortgleich noch heute in den alternativen Szenen eine Rolle spielen. Aber auch dem Nationalsozialismus wurden Vorlagen geliefert, die er rabiat umsetzte. Dabei schluckte er gleich wesentliche Teile der Bewegung, die ihn teilweise herbeigesehnt hatte. Diese komplexe und widersprüchliche Wirkungsgeschichte hat damit zu tun, dass sich in der bunten Welt der Lebensreform unterschiedlichste Aspekte mischten: einerseits Individualismus, Modernität und Kampf gegen Zwänge, Rollenmuster und Traditionen, andererseits der sehnsüchtige Blick zurück in vorindustrielle Zeiten, Irrationalismus, Rigidität, Biologismus und Rassismus. Kreative Experimente, individueller Ausdruck und Mut zur Hässlichkeit fanden sich neben zwanghaften Essensritualen, Runengymnastik und der Verklärung des arischen Körpers.

Zwei Elemente dieser Bewegung sind für unser Thema interessant: Die Rolle der Spiritualität und die Körpermythologie. Die Lebensreform war stark von exotischer Spiritualität geprägt. Das Interesse galt hauptsächlich Hinduismus, Buddhismus und zoroastrischer Religion (die sog. Mazdaznan-Bewegung2, vgl. Baumann 1998, Linse 1991). Sehr populär war das Yoga, und dem Atem wurde eine zentrale Bedeutung für die psychophysische Entwicklung zugeschrieben. Ein Grund für die Popularität dieser Praktiken und Religionsformen war, dass sie den Einflüssen der westlichen Zivilisation entrückt schienen. Sie schienen ursprünglicher, reiner, unverdorben, so wie der „edle Wilde“, das Kind oder ein Mensch in psychotischer Verfassung. Ein weiterer Grund war, dass mit ihnen individuelle Entwicklung, Ganzheitlichkeit und umfassende diesseitige Harmonie möglich erschienen. In diesen Religionen musste man sich zudem nicht in die Abhängigkeit von höheren Wesen begeben, es genügte die eigene alltägliche Praxis (vegetarische Ernährung, Atemübungen, Meditation, eventuell auch Askese), also die Veränderung der individuellen Lebensweise ohne Umweg über Dogmen und Institutionen. In einer eigenen Aneignung des Buddhismus konnte sich das bürgerliche Programm der Selbstdisziplin und Selbstverwirklichung wiederfinden und fortsetzen.

Eine zweite Schlüsselstellung in der Lebensreformbewegung nahm der Körper ein. Er hatte bereits im 19. Jahrhundert eine massive Aufwertung erfahren – einerseits als Objekt von Forschung, Disziplinierung, Pflege, Hygiene (Lorenz 2000, Sarasin 2001), andererseits als Autorität und Hoffnungsträger. Diese Aufwertung erfolgte zum einen durch die Naturwissenschaften. Die Evolutionstheorie verlagerte die göttliche Schöpferkraft in die Natur, die Körperlichkeit, die Sexualität (Riedel 2001). Zum anderen rückte der Körper durch die Entwicklung der Philosophie (Schopenhauer, Nietzsche und die „Lebensphilosophie“) ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Schließlich spielten sicher auch die sichtbaren Erfolge der Bemühungen um Hygiene und Volksgesundheit eine Rolle. Der Körper, das Unbewusste und die Sexualität waren dadurch bereits im 19. Jahrhundert große Themen geworden. In der Lebensreformbewegung aber wurde der Körper nun zunehmend vom Objekt zum Subjekt. Dem objektivierenden Blick der Hygienebewegung wurde die Einfühlung in den Körper hinzugefügt und oft entgegengesetzt. Das führte zu einer „Körperkultur“, in der Spontaneität und Natürlichkeit dominierten (eine ausführliche Darstellung findet sich in Wedemeyer-Kolwe 2004, für eine anschauliche Illustration empfehle ich den UFA-Film von 1925 „Wege zu Kraft und Schönheit“3): statt festgelegter Bewegungs- oder Tanzformen Ausdruckstanz, statt Habitus und Mode Nacktheit, statt kanonisierter Kunstformen die Orientierung an Jugendlichkeit und natürlichen Formen. Diese Körperkultur führte zu einer Art Körpermythos: Der Körper wurde zum überlegenen Gegenspieler des diskreditierten Verstandes. Er wurde als Vermittler einer anderen Form von Weisheit gesehen. Viele Teilnehmer der Bewegung übersahen die historisch-soziale Dimension des realen wie des idealen Körpers. Dieser Naturalismus sollte verheerende Folgen haben.

Die Verbindung von Körpermythologie und asiatischer Spiritualität, wie sie damals rezipiert wurde, führte darüber hinaus häufig zu einer regelrechten Körpermystik: Der Körper sollte nicht nur den Weg zu mehr Gesundheit und einer gesunden Gesellschaft weisen, er wurde auch als Ausdruck einer umfassenden kosmischen Wahrheit angesehen: Wende Dich dem Körper zu und Du findest Zugang zu universellen Wahrheiten.

Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden vor allem in den USA, Frankreich und Deutschland zahlreiche Bewegungs-, Atem-, Tanz- und Gymnastikschulen, die sich wechselseitig beeinflussten, sich organisierten und eine Wirkung weit über die eigentliche Lebensreformbewegung hinaus entfalteten. Gymnastik etablierte sich neben Turnen und Sport.

Eine der zahlreichen Gymnastiklehrerinnen dieser Zeit war Elsa Gindler, die 1913 in Berlin ein „Institut für harmonische Gymnastik“ gründete. Ihre besondere Relevanz für die Geschichte der psychosozialen Bewegungen, der Achtsamkeit und der Psychotherapie4 erklärt sich daraus, dass sie gemeinsam mit Heinrich Jacoby die Körperkultur im Rahmen der Lebensreformbewegung auf moderne und fruchtbare Weise weiterentwickelte.5

Gindler / Jacoby betrachteten den Körper als einen sozialen Organismus, der sich an konkrete gesellschaftliche Verhältnisse adaptieren muss: „Wir vergessen nämlich immer wieder, dass wir im Menschen ein Ganzes, das selbst wieder nur ein Teil eines sozialen Organismus ist, vor uns haben, das man nicht plötzlich als ‚Nur-Körper‘ und ‚Nur-Individuum‘ ansprechen kann.“ (E. Gindler in Ludwig 2002, S. 100). Für sie und Jacoby war der Körper vor allem ein individueller und gesellschaftlicher, kein „natürlicher“ und schon gar kein „arischer“. Umgekehrt muss die Gesellschaft so gestaltet werden, dass sie dem Körper gerecht wird. Gindler / Jacoby kritisierten die Lebensbedingungen der Mehrheit ihrer Mitbürger heftig. Deshalb kam es ihnen auf das Verhalten im Alltag an: „... der Tummelplatz für die Übung ist nicht die Stunde.“ (E. Gindler in: Ludwig 2002, S. 86). Die Entwicklung des einzelnen Menschen ist nicht absehbar, weil sie von seinen Spielräumen und von ihm selbst abhängt. Jeder einzelne Schüler ist die letzte Instanz für diese Frage. Elsa Gindler kritisierte daher den Leistungssport ebenso wie die gerade populäre Säuglingsgymnastik. Ihr war es wichtig, „dass jeder Schüler in seiner Weise übt“ (in Ludwig 2002, S. 86) und sein individuelles Potenzial im Zusammenspiel mit seiner Umwelt realisiert. Gindler / Jacoby ging es um eine „persönliche Entwicklungsarbeit ohne primär pädagogische oder therapeutische Zielsetzung“ (Klinkenberg 2007, S. 92).

Neben der Orientierung an der Gesellschaft und dem Einzelnen war aber vor allem Folgendes zukunftsweisend: Gindler / Jacoby betonten die Bedeutung einer ganz bestimmten Haltung in...



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