Das Experiment der Götter (S. 4-5)
Die Vorstellung von Göttern oder Gottesboten, die zu den Menschen kommen, sie zu prüfen und zu wägen, ist alt: ob die zwei Engel, die gen Sodom kamen oder die fremden Gäste, die bei Philemon und Baucis einkehrten, sie kommen den Menschen zur Probe, als Kundschafter, die über das Experiment Mensch Rechenschaft verlangen. Sie sind, wie bei Brecht, Beobachter, die sich nicht einmischen, weil das den Sinn ihrer Aufgabe verkehren würde und der gerade darin besteht, die selbständige menschliche Leistung herauszufinden. Dabei, so lehrt schon die alttestamentarische Geschichte, kommt es nicht auf die große Zahl der Gerechten an, ob es fünfzig oder nur zehn sind, bedeutet gleichviel: »Ich will sie nicht verderben um der zehn willen.« Solange es überhaupt möglich ist, Gerechte zu finden, solange ist der Ausgang des Experiments streng genommen noch nicht entschieden.
Die Götter in Brechts Stück wiederholen das große Experiment im Kleinen. Das Experiment, das Mensch und Welt insgesamt darstellen, wird projiziert in den Versuch, den die Götter mit Shen Te anstellen, indem sie ihr jene Morgengabe von »über tausend Silberdollar« (185) zukommen lassen, von denen sie sich dann drei Tage später den Tabakladen kauft. Ein im Übrigen auch doppelsinnig zu verstehendes Geschenk, weshalb der erste Gott »verlegen« zu Shen Te bemerkt: »Sprich aber zu niemand darüber, daß wir bezahlten. Es könnte mißdeutet werden« (184). Von fern klingt hier noch das erotische Motiv an, das zum Thema des Götterbesuchs spätestens seit den antiken Mythen gehört, aber in anderen Kulturkreisen ebenso verbreitet ist. Goethe hat den Stoff in seiner Ballade »Der Gott und die Bajadere« (»er bequemt sich, hier zu wohnen, / Läßt sich alles selbst geschehn. / Soll er strafen oder schonen / Muß er Menschen menschlich sehn«) einer indischen Legende entnommen.
In diesen alten, populären, auch in Märchen und Sagen verbreiteten Vorstellungen, die noch in säkularisierten Zeiten die kollektiven Tagträume der Menschen formten, sind zwei wichtige Voraussetzungen enthalten: dass ein Gott zwar der Schöpfer und Herr der Welt und des Menschen ist, beide dann aber sich selber überlassen hat, weshalb sie sich ihren verschiedenen, auch widersprüchlichen Möglichkeiten und Anlagen gemäß verwirklichen können; und dass der Mensch frei ist, sich seiner positiven oder negativen Anlagen gemäß zu entwickeln, und er daher die Verantwortung trägt für sein Tun und Sosein, also auch zur Verantwortung gezogen werden kann.
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