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Ab auf die Couch! - Wie Psychotherapeuten immer neue Krankheiten erfinden und immer weniger Hilfe leisten
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Ab auf die Couch! - Wie Psychotherapeuten immer neue Krankheiten erfinden und immer weniger Hilfe leisten
von: Michael Mary
Blessing, 2013
ISBN: 9783641102180
272 Seiten, Download: 754 KB
 
Format: EPUB, PDF
geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen PC, MAC, Laptop

Typ: A (einfacher Zugriff)

 

 
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Leseprobe

I

WOZU GIBT ES DIE PSYCHOTHERAPIE?

Doch worin besteht der ureigene Auftrag der Psychotherapie? Er besteht nicht darin, die Psyche eines Menschen so zu behandeln wie ein Arzt den Körper seines Patienten, sondern vielmehr darin, den Menschen durch schwierige Lebensphasen zu begleiten.

Dieser These nach wäre die Basis der Psychotherapie weder Medizin noch Ingenieurskunst, weder Wissenschaft noch Technik, sondern ganz im Gegenteil die menschliche Zuwendung. Diese Zuwendung hätte zum Ziel, eine individuelle Orientierung im Leben zu ermöglichen oder in einer menschlich schwierigen Lage einen Sinn zu finden. Die Betonung liegt hier auf den Begriffen ›individuell‹ und ›menschlich‹, was so viel heißt, dass es in der Psychotherapie nicht um ›allgemeine‹ Störungen, sondern vielmehr um ›nicht verallgemeinerbare‹ Störungen geht. Um Befindlichkeiten, die von den individuellen Unterschieden der Menschen abhängen. Um ganz unbestimmte Zustände, für die es ganz eigene Spezialisten braucht.

Lassen Sie mich die These von dem unüberbrückbaren Unterschied zwischen Psychotherapie und Medizin anhand eines Beispiels erläutern.

Eine junge Frau namens Helga, 26 Jahre alt, ist bedenklich abgemagert, keiner weiß, warum. Sie läuft von Arzt zu Arzt und lässt über ein Jahr hinweg den Darm, die Schilddrüse, den Hormonhaushalt, den Magen, das Blut und alles Mögliche untersuchen, ohne dass etwas Greifbares gefunden wird. Schließlich gelangen ihre Ärzte zu der Überzeugung, die Ursache ihrer Erkrankung müsse psychischer Natur sein. Helga, die inzwischen nur noch 40 Kilo wiegt, wird mit der Diagnose ›Magersucht‹ an eine psychotherapeutische Klinik überwiesen. Dort nimmt sie an etlichen Therapiesitzungen teil, doch den Psychologen scheint sie psychisch recht normal zu sein, kein Vergleich zu den übrigen Magersüchtigen. Daher werden weitere ärztliche Untersuchungen veranlasst, unter anderem eine Computertomografie. Diese zeigt eine Entzündung im Gehirn. Nun wird Helga aus der Klinik entlassen und wieder einer medizinischen Betreuung zugeführt.

Das Beispiel macht sehr deutlich, wann eine Psychotherapie zum Einsatz kommt. Die Laborergebnisse zeigen keinen Befund, und die körperliche Untersuchung ergibt kein schlüssiges Symptombild. Die Ärzte können dem lebensbedrohlichen Zustand der Patientin keine Ursache zuordnen und sind daher mit ihrem Latein am Ende. Sie leugnen nicht das Leid der Helga, aber wenn es offenbar nicht körperlich verursacht ist, dann muss es wohl ›psychisch‹ bedingt sein, so vermuten sie, und daher sollen sich Psychotherapeuten mit der Frau befassen. Vielleicht erbricht sie sich ja heimlich nachts und ist unerkannt magersüchtig. Folgerichtig wird sie an eine psychotherapeutische Klinik überwiesen.

Halten wir also fest:

Psychotherapeuten kommen zum Einsatz, wenn nichts (medizinisch) Greifbares gefunden wird und die Mittel der Ärzte versagen.

Das Beispiel zeigt auch, wann Psychotherapie nicht angebracht ist. Nämlich dann, wenn eine greifbare Ursache für einen Leidenszustand gefunden wird. Deshalb wird die Patientin nach dem Ergebnis der Computertomografie wieder in ärztliche Behandlung zurückgeführt. Ein Psychotherapeut kann bei einem entzündlichen Vorgang im Gehirn nämlich auch nichts ausrichten.

Nun wird der Unterschied zwischen Medizin auf der einen und einer Psychotherapie auf der anderen Seite nachvollziehbar. Handelt es sich um einen Zustand, dem eine klare Ursache zugeordnet werden kann und für den eine eindeutige Diagnose zur Verfügung steht, dann kommen Ärzte (und Psychiater) als Behandler zum Einsatz. Handelt es sich um einen unklaren Zustand, für den man nicht auf medizinische Fakten zugreifen kann und für den man auf die Vermutung psychischer Gründe angewiesen ist, dann kommen Psychotherapeuten als Begleiter zum Einsatz.

Der Unterschied zwischen Medizin und Psychotherapie ist demnach der Unterschied zwischen einer Behandlung und einer Begleitung. Um diesen Unterschied noch zu verdeutlichen, hier ein weiteres kurzes Beispiel.

Ein 38-jähriger Mann kommt in geistig verwirrtem Zustand in ein Krankenhaus und redet wirres Zeug. Wohin mit ihm? Auf die Intensivstation oder in die Psychiatrie? Erfährt der Arzt, dass sein Patient gerade Drogen genommen hat, weist er ihn nicht in die Psychiatrie ein, sondern behandelt ihn medizinisch und verlegt ihn auf die Beobachtungsstation. Erfährt der Arzt jedoch, dass der Betroffene gerade Zeuge einer Gewalttat war, wird er ihn für traumatisiert halten und ihn einer psychotherapeutischen Betreuung zuführen.

Beide Beispiele weisen auf den wesentlichen Unterschied zwischen Medizinern (und Psychiatern) auf der einen und Psychotherapeuten auf der anderen Seite hin. Dieser Unterschied besteht in den Dingen, mit denen sich die jeweiligen Spezialisten befassen. Die einen wenden sich den greifbaren Dingen zu, die anderen befassen sich mit den nicht greifbaren Dingen. Die einen befassen sich mit dem Körper, die anderen mit der Psyche.

Der Körper ist im Vergleich zur Psyche konkret und greifbar, die Psyche ist im Vergleich zum Körper vage und unbestimmt. Der Körper ist bei jedem Menschen annähernd gleich aufgebaut. Deshalb kann und sollte beispielsweise Diabetes strukturiert behandelt werden. Der Arzt, der Diabetes behandelt, geht am besten nach einem festgelegten Plan vor. Zuerst stellt er fest, ob es sich um eine Typ-A- oder Typ-B-Diabetes handelt. Er misst den Blutzucker. Er empfiehlt gegebenenfalls einen Ernährungsplan. Er spritzt Insulin. Er führt anschließend Kontrolltests durch. Dem Mediziner ist es dabei gleichgültig, unter welchen Umständen sein Patient aufgewachsen ist, ob es ihm an Selbstbewusstsein mangelt, welchen Beruf er ausübt und ob er eine Liebesbeziehung hat oder nicht. Er befasst sich mit dem Körper, nicht mit der Psyche. Er braucht den Menschen nicht zu kennen, nicht einmal seinen Namen; es reicht ihm, sich mit dessen Körperteilen zu befassen.

Wer sich allerdings mit der Psyche befasst, wie Psychotherapeuten das tun, der kann nicht auf vorgegebene Schemata und Ordnungsprinzipien zugreifen. Die Psyche ist bei jedem Menschen unterschiedlich strukturiert. Die Erfahrungen, die Erwartungen und die Weltsicht des Einzelnen sind im wahrsten Sinn des Wortes einzigartig. Deshalb kann eine Psyche nicht nach Plan A oder Plan B behandelt werden, vielmehr muss der Psychotherapeut auf die individuellen Besonderheiten seines Klienten eingehen. Dabei kommt es auf schwer greifbare Faktoren an, auf unübersichtliche Lagen, auf die konkreten Lebensumstände, auf das Beziehungsgeflecht, auf die Einstellungen des Betroffenen. Wie haben seine Eltern ihn erzogen? Hat er Geschwister? Gibt es unverarbeitete Schicksalsereignisse? Wodurch wurde seine Krise ausgelöst? Über welche psychischen Ressourcen verfügt er? Welcher Sinn mag in der Störung liegen? Was wird er als Lösung seines Problems empfinden? Dem Psychotherapeuten kommt es auf solche unbestimmten Umstände an, ohne deren Erforschung er seinen Klienten nicht helfen kann.

Psychotherapie leistet etwas, was weder Medizin noch Psychiatrie leisten können. Sie befasst sich mit den nicht verallgemeinerbaren Dingen: mit der Individualität eines Menschen, mit seinen psychischen Besonderheiten, mit jenen Merkmalen und Merkwürdigkeiten, die aus ihm erst ein Individuum machen.

Der Soziologe Peter Fuchs hat das Phänomen der Psychotherapie analysiert2 und dabei nach einer Antwort auf die systemisch-soziologische Frage gesucht, mit der er gesellschaftliche Phänomene aufschlüsselt. Diese Frage lautet: »Als Lösung welchen sozialen Problems lässt sich die Psychotherapie deuten?«3 Die Antwort auf diese höchst aufschlussreiche Frage lautet: Psychotherapie löst das gesellschaftliche Problem, mit individualisierten Psychen umzugehen. Psychotherapie deckt den zunehmenden Bedarf an Fachleuten, die mit Themen und Sachverhalten umgehen können, die in kein vorgegebenes Schema passen und für die es keine vorgegebenen Lösungen gibt. Peter Fuchs bezeichnet Psychotherapeuten daher treffend als moderne »Verwalter der vagen Dinge«, einen Begriff, den er dem Philosophen Paul Valéry entliehen hat.

Besser kann man es meines Erachtens kaum ausdrücken. Die Psyche ist kein fassbares Ding, so wie der Körper eines ist. Sie ist ein außerordentlich vages, undurchschaubares und unübersichtliches Gebilde. Niemand hat je eine Psyche gesehen oder angefasst. Selbst wenn man das Gehirn eines Menschen in Scheiben schneidet oder in Moleküle zerlegt, wird man darin keine Psyche finden. Unter dem Mikroskop tauchen nur Zellen, Stoffwechselvorgänge und Synapsen auf, weder Gedanken noch Gefühle. Die Psyche verarbeitet keine chemischen Stoffe, so wie das Gehirn, die Nieren oder die Leber es tun. Sie pumpt kein Blut durch die Adern, wie das Herz es tut, und löst keinen Sauerstoff aus der Luft, um ihn dem Blut zuzuführen, wie die Lunge das macht. Die Psyche hat nur eine einzige Aufgabe: sie deutet das, was das Gehirn des betreffenden Menschen wahrnimmt, und versucht, diesen Eindrücken einen Sinn zu verleihen.

Die Psyche deutet Hirnereignisse – so viel kann man grundlegend sagen –, und sie deutet diese von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Daher können verschiedene Menschen zwar dasselbe sehen, aber dennoch etwas ganz Unterschiedliches erleben. Ihnen kann dasselbe Ereignis zustoßen, aber sie verarbeiten es zu ganz unterschiedlichen Erfahrungen. Sie können den gleichen Umständen ausgesetzt sein und entwickeln dennoch völlig unterschiedliche Reaktionen darauf. Sie können die gleichen Erlebnisse gehabt haben und diese dennoch ganz unterschiedlich erinnern.

Die Psyche stellt ein...



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